Interview mit Joshua Rifkin


Bild Joshua RifkinHerr Rifkin, Sie sind einer der Pioniere der historischen Aufführungspraxis, und inzwischen seit mehr als einem halben Jahrhundert in diesem Bereich aktiv. Wenn Sie nun mal die augenblickliche Situation der Alten Musik in Europa und den USA betrachten und mit der vor 50 oder 30 Jahren vergleichen: Würden Sie sagen, wir haben Fortschritte gemacht - oder eher Rückschritte? Was ist für Sie die bedeutsamste Entwicklung, was die ärgerlichste (wenn es solche gibt)?
Ein halbes Jahrhundert? Erschreckend! Ebenso die Bezeichnung Pionier: Ich betrachtete mich schon als zur Folgegeneration der wirklichen Pioniere gehörend; dazu kommt, dass Pionier eigentlich nichts über die Qualität der Arbeit sagt – das einzige, was mich interessiert. Wenn ich aber zurückblicke, dann fällt mir doch einiges auf. Fortschritt gibt es zwar in großem Maße: Mindestens rein technisch ist das Niveau enorm gestiegen, außerdem haben sich die stilistischen Kenntnisse weit verbreitet – man kann heute von einem Level ausgehen, von dem man vor 30, 50 Jahren nur träumen konnte. Damit verbunden stellt die Alte Musik im allgemeinen Musikleben keine Randerscheinung mehr da.
Rückschritte? Ja, mit dem Erfolg wird man bequem; und für mich soll die Alte Musik nie bequem werden. Man stellt heute nicht so viele Fragen. Zwar haben sich viele Fragen beantworten lassen – doch gibt es immer neue, und auch die alten Antworten sind neu zu hinterfragen. Wir entgehen ja nicht immer der Gefahr, nach Rezept zu musizieren. Natürlich hat das alles sein dialektisches Element: Gerade das gesteigerte Können verlangt seinen Preis.

Was sind denn die alten Antworten, die Sie einmal gegeben haben und nun hinterfragen möchten - wenn es da welche gibt? Und inwiefern hat das gesteigerte Können seinen Preis?
Preis des gesteigerten Könnens? Einfach: Dass man alles zu schnell, zu unreflektiert, zu oberflächlich macht. Da man – an sich, glücklicherweise – imstande ist, eine halbwegs ordentliche Aufführung mit kaum einer Probe über die Runde zu bringen, heißt allzuoft, dass man gerade das tut. Im Schlechten also nicht weniger als im Guten unterscheiden wir uns kaum mehr vom Mainstream-Betrieb.
Und alte Antworten? Ja damit habe ich nicht unbedingt die eigenen gemeint! Aber natürlich stelle ich auch mich selbst in Frage. In großen Dingen komme ich, vielleicht wie nur zu erwarten, doch immer zur gleichen Antwort – aber ich frage trotzdem. Und im Kleinen kommt es ständig zu einer Revision. So gab es vor einiger Zeit bei einer Probe eine Meinungsverschiedenheit über Tempo in einer Motette von Johann Christoph Bach. Mir war klar, der betreffende Abschnitt sollte etwas rascher gehen, als die Sänger es gewohnt waren – und ich konnte meine Auffassung mit klugen Argumenten aus der Notation und anderen Dingen untermauern. Später fiel mir jedoch ein, dass gerade die betreffende Argumentationsweise eigentlich mehr für das langsamere Tempo sprechen würde, was mich natürlich zwang, zu einem anderen Verständnis des Stückes – hoffentlich einem besseren – zu kommen.

Ist es heute noch spannend, Alte Musik zu machen, oder ist der Forschergeist verloren gegangen?
Ich glaube, jede Musikerin, jeder Musiker, der neu zur Alten Musik kommt, findet es noch spannend. Für mich bleibt es ohnehin spannend, Musik – egal welcher Art – zu machen. Aber Forschergeist im einzelnen, womit man nicht allein die sogenannte wissenschaftliche Forschung meint, sondern ganz allgemein eine fragende Einstellung zu allen Aspekten des Musizierens: Ja, das hat nachgelassen. Damit verbunden gibt es zunehmend eine Lust nach Sensation. Zwar hat die Alte Musik immer einigermaßen davon gezehrt, denn man wollte ja der Erste sein mit dem Stück, dem Repertoire, dem Interpretationsansatz, was heutzutage kaum in gleichem Maße möglich ist. Aber der Markt will, dass man es immer noch anders macht, als die anderen. Zu diesem anders gehört nun leider auch etwas, was man Scheinwissenschaft nennen darf – zwar oberflächlich attraktive, eigentlich aber gleichsam aus reiner Luft gegriffene Forschungserträge, die zur Begründung aller möglichen – ja, was soll ich da für ein Substantiv einschalten? Absurditäten? – angeführt werden... Aber: Nochmals die dialektische Kehrseite. Wir haben immer noch wunderbare Musiker, die hervorragend singen und spielen, doch auch denken können. Il y a toujours espérance...

Wie sind Sie selbst eigentlich auf die Alte Musik verfallen? Das war ja in den USA der 50er und 60er Jahre nicht so ganz der selbstverständlichste Weg...
Ach, wir waren auch damals kein Dritte-Welt-Land! Und auch in Europa etwa waren Ensembles, die auf alten Instrumenten spielten, noch keine Selbstverständlichkeit. Wir hatten Cembali und Cembalisten, Gamben, Blockflöten... - Barockoboen, Barockgeigen freilich kaum – aber auch bei Euch waren die, wie gesagt, nicht überall anzutreffen! Auf jeden Fall entwickelte sich bei mir sehr früh ein starker Hang dazu. Schon als kleiner Jung lauschte ich immer wieder einer Schallplatte mit dem schönen Titel Said the Piano to the Harpsichord – einem Dialog also zwischen dem modernen und dem angeblich überholten Tasteninstrument. Es spielte dabei Ralph Kirkpatrick, der übrigens nicht so lange danach gerade von der Archiv-Produktion mit der Einspielung der Bachschen Clavierwerke betraut wurde. Mein Klavierlehrer, der zwar nicht so viel vom Cembalo hielt, führte mich in die Welt der Bachkantaten ein. An der Juilliard School saß zwar das Cembalo in einem streng abgesperrten Raum, doch habe ich es immer wieder geschafft, trotzdem daranzukommen. Und es gab natürlich zahlreiche Schallplatten – gerade das Medium, wodurch Musiker in aller Welt zur Alten Musik kamen. Ich hatte einfach Lust, Bachkantaten selbst zu machen – was ich bereits mit 17, 18 Jahren in New York tat.

In letzter Zeit beschäftigen Sie sich aber eher mit neuerer Musik - oder gar nicht mit Musik, sondern mit der bildenden Kunst. Was sind da Ihre Hauptinteressen, wie kam es dazu?
Neuere Musik war bei mir immer dabei. Ich bin in der damals Neuen Musik aufgewachsen – studierte Komposition, ging mit 17 Jahren zu Stockhausen nach Darmstadt und so weiter, und verlor auch später nie die innere Verbindung mit dieser Welt. Gerade in Darmstadt übrigens habe ich die Neue Bach-Ausgabe abonniert...
Sicherlich gehörte ich also nie zu jenen in der Alte-Musik-Szene, die keine Musik nach 1750 gelten ließen! Zum Glück habe ich in letzter Zeit wieder die Chance, Repertoire zumindest des 20. Jahrhunderts zu machen. Aber was ich schön finde, ist, dass ich nunmehr als Interpret diese Musik anders als vorher auffasse – und das verdanke ich gerade der Erfahrung mit der Alten Musik: Die hat uns gelehrt, etwa Webern anders zu begreifen, als vor 50 Jahren, und auch dafür bin ich dankbar.

Inwiefern anders aufzufassen? Vor 50 Jahren war er ja gerade erst gestorben, da sollte man doch meinen, dass wir noch näher am sogenannten Original waren!?
Nein, waren wir nicht. Einerseits war es gerade in der Zeit nach 1950, als sich die allgemein geltenden Spielweisen enorm veränderten. Zweitens gab es bei dieser Musik keine verbreitete Aufführungstradition – es gab einige wenige Insider, die waren aber nicht in der Lage, Schule zu machen. Schule machte dagegen eine Sichtweise, die sich vor allem aus der seriellen Avantgarde – zu der, wie gesagt, ich mich damals bekannte – ergab. Nicht, dass man Webern und die anderen schlampig spielen soll; aber auch nicht mit der überspitzten Artikulation, dem steifen Tempogefühl und so, die die Interpretation dieser Musik seit den 50ern weitgehend geprägt hat. Rudolf Kolisch etwa – der Geiger, der Schönberg, Berg und Webern am nächsten gestanden hat – spielte ja lebenslang mit Darmsaiten.

Und die bildende Kunst?
Das war lange Zeit eine Vorliebe von mir; wo immer das Bach Ensemble oder ich allein ein Konzert hatte, suchte ich das dortige Kunstmuseum auf. Rein durch Zufall aber bin ich vor einiger Zeit auf ein paar ungelöste Probleme bei Rembrandt gestoßen, die mich gefesselt haben – und denen mich Spezialisten, die ich wiederum rein zufällig kenne, ermuntert haben, weiter nachzugehen. Ich finde das alles spannend..., und man braucht doch ab und an auch was Neues, um den Geist zu beschäftigen...

In den 70er Jahren haben Sie diverse Platten mit Ragtimes aufgenommen, insbesondere das Werk von Scott Joplin geradezu aus der Versenkung gehoben. Warum, woher rührte dieses Interesse? Und beschäftigen Sie sich damit heute immer noch?
Zu Ragtime kam ich zuerst durch meinen älteren Bruder, der eine große Liebe zu altem Jazz hegte. Ich kannte und spielte viel von Jelly Roll Morton, auch ein paar Sachen von Scott Joplin. Aber das eigentliche Engagement für Joplin kam erst später, vor allem durch zwei Komponisten-Freunde, Eric Salzman und William Bolcom, die sich dafür begeisterten. Ich meinte, diese Musik bereits zu kennen, doch tatsächlich gab es noch viel zu lernen... Aber wie dem auch sei: Diese Musik hat mich einfach gefesselt! Und ich war damals in der glücklichen Lage, mit einer sehr aufgeschlossenen Schallplattenfirma verbunden zu sein, wo ich ziemliche Freiheit genoss, Platten nach meiner Wahl zu machen. Also beschloss ich, nachdem ich etwa Chansons von Antoine Busnoys und Josquin Desprez aufgenommen hatte, auch Joplin einzuspielen. Dass es zu einem so großen Erfolg werden würde, ahnte keiner – am allerwenigsten ich. Wir machten alle die Sache einfach aus Liebe und Hingabe. Und das vergeht auch nie. Zwar spiele ich diese Sachen nicht mehr so häufig wie einst. Aber im Frühjahr 2014 beispielsweise konnte ich der ehrenvollen Einladung folgen, in der Londoner Wigmore Hall einen Abend mit Scott Joplin zu machen. Himmlisch! Das gehört wirklich zu den Sternstunden meines Lebens als Musiker.

Was sind Ihre nächsten Pläne und Projekte als Dirigent, Pianist, Wissenschaftler?
Naja ... nach Monteverdi natürlich mehr Bach, mehr Webern, im Herbst Motetten von Clemens non Papa mit Cappella Pratensis. Im August spiele ich zum ersten Mal in meinem Leben Schöne Müllerin; mein alter Sängerfreund Frank Kelley tat mir die Ehre, dazu einzuladen, nachdem wir quasi improvisatorisch nach einer Monteverdi-Vesper ein paar Lieder daraus machten. Gelingt es mir, das halbwegs ordentlich in den Griff zu bekommen, dann denke ich auch daran, das mit einem europäischen Kollegen, wie etwa dem geschätzten Tenor David Munderloh zu wiederholen.

Vergangenes Jahr machten Sie zusammen mit Concerto Palatino in Belgien Furore mit einer neuen Auffassung des Stücks, das wir gemeinhin als Claudio Monteverdis Marienvesper bezeichnen. Worum ging es da und wie kamen Sie darauf?
Ja, die sogenannte Monteverdi-Vesper machte mir immer zu schaffen. Als dann vor einiger Zeit von dem befreundeten Ensemble Cambridge Concentus in meiner Heimatstadt die Einladung kam, mit ihnen die Vesper zu machen, dachte ich: Ja, nun kann ich mich mit dem Ding endlich ordentlich auseinandersetzen. Und das erste, was ich fand: Es gab das Ding gar nicht. Das, was wir Monteverdi-Vesper nennen, ist ein Mischmasch, der nur dadurch entstanden ist, dass man es nicht verstand, mit einer gedruckten Quelle des frühen 17. Jahrhunderts umzugehen – und auch deshalb, weil man unbewußt nach einem großen Chorwerk trachtete, das neben etwa der Matthäuspassion oder dem Messias bestehen konnte. Die sogenannte Monteverdi-Vesper zerfällt eigentlich in zwei Einheiten, die liturgisch und musikalisch nichts miteinander zu tun haben, irreführenderweise aber gleichsam im selben Haus wohnen: Eine ordentliche Vesper aus Psalmen, Hymnus und Magnificat, und etliche geistliche Konzerte, oder Sacri concentus. 1610 veröffentlichte Monteverdi diese Werkgruppen zusammen mit einer Messe – die eigentlich das Hauptwerk der Sammlung war. Ich dachte, wir sollten das ganze Opus zu Gehör bringen, aber jeden Teil für sich, was Monteverdis Intention besser entspricht.

In Ihrer Interpretation dieser Monteverdi-Werke verzichten Sie aber auch mit der Reduktion von Ornamentierung und Improvisation gewissermaßen auf einen Teil dessen, was man heute gemeinhin Interpretation nennt. Ist das ein prinzipieller Vorbehalt gegen Interpretation - und warum? Wo fängt Interpretation überhaupt an, man kann ja eigentlich gar nicht ohne spielen, oder?
Wieso versteht man unter Interpretation, dem vom Komponisten hinterlassenen Notentext neue Noten und Instrumente hinzuzufügen? Geht man bei Beethoven, bei Wagner, bei Mahler, bei Schönberg so vor? Interpretation heißt, nach dem Sinn der Noten zu suchen, die Noten so schön, so präzise, so einfühlsam, so kenntnisreich, so farbig, so lebendig, so ausdrucksvoll wie möglich zu singen und spielen. Sie heißt aber nicht, nach faulen Rezepten bequem immer weiter zu kochen. Und da sind wir an den Anfangspunkt zurück gelangt: Alles ist ständig zu hinterfragen ...


Erschienen im Mai 2015 Toccata - Alte Musik Aktuell.


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